Es gibt Texte, die sind strukturell und inhaltlich so klar, dass sie einen festen Platz auf den Spielplänen der Theater der Welt und in den Lehrplänen der Schulen haben. Nach DIE RÄUBER und WOYZECK kommt nun ein weiterer Klassiker auf die Bühne der Ostetalschule KGS Sittensen:
DER BESUCH DER ALTEN DAME, die tragische Komödie des Schweitzers Friedrich Dürrenmatt.
Es ist die Geschichte der heutigen Milliardärin Claire, die einst als Klara schwanger von ihrem Geliebten verraten und von der Dorfgemeinschaft verstoßen wurde, und nun ein verlockendes Angebot macht: eine Milliarde werde sie ihrer heruntergekommenen Heimatstadt schenken, zu gleichen Teilen an den Ort und die Bürger, sollte Alfred, ihre große Liebe von früher, ermordet werden.
Wenn das Licht angeht, hockt, einsam zusammengefaltet, eine junge Frau in hautengem schwarzen Kleid, blass, blond gelockte Haare, mitten auf der Bühne. Der Blick fast leer, Sehnsucht ist darin, Enttäuschung und die Erinnerung an eine Liebe, die bis heute schmerzt. Damit ist das Thema gesetzt. Die folgende, durchaus beeindruckende Choreographie, erzählt von Einsamkeit und Ausgrenzung, von Macht und menschlicher Kälte. Das ist stark!
In einfachen, klaren Bildern und mit treffend auf einen Typus reduzierten Figuren wird die Handlung in Gang gesetzt. Die kleine Ortschaft ist von einigen ziemlich schrägen Gestalten bevölkert: Der Arzt bleibt fast teilnahmslos (trocken-humorig: Cedric Meyer), der Lehrer wirkt wie ein biederer(!) Hipster, der zunehmend ausflippt und dem Alkohol frönt (pointiert: York Pape), der Polizist ist verschlafen und latent gewaltbereit (lässig: Oskar Meyer), der Pfarrer ist eine skurrile Mischung aus Box-Promoter, Mobster und Zuhälter (herrlich selbstgefällig mit der Autorität einer lebenden Karikatur: Mischa Sept). Als Butler der Dame agieren Marcel Tiemann, Bendix Meyer und Finley Nack verlässlich, während Felix Reiner den Bürgermeister sehr pointiert als gewieften Rhetoriker ohne Skrupel darstellt: Hier wird deutlich, wie gut der Text, wie klar erfasst der Sinn und wie - bedauerlich - zeitgemäß der Stoff ist! Zeitlos eben in der grotesken Parabelform. Ob es dramaturgisch eine gute Idee war, die Geschichte um Engel und Teufel, um eine gute und böse Macht zu ergänzen, die ihre Fehde auf Kosten der Menschen austragen, sei dahingestellt: unterhaltsam ist das Duell allemal (so unbedingt optimistisch wie charmant: Antonia Borchers, so dreist wie dominant: Timo Reiner).
Stark hingegen ist die Idee, Klara, die sich Claire nennen lässt, auf drei Schauspielerinnen aufzuteilen: Wenn Talea Wichern gleich im ersten Bild sehnsuchtsvoll einsam ins Leere blickt, wie verloren sie wirkt, in der Horde derer, die an ihr zerren, sie zu zerreißen scheinen, wie sie liebend im Mord die tiefe Verletzung zu sühnen anstrebt: Das besitzt eine solche Ehrlichkeit, dass man schlicht hingerissen ist; umso eiskalter läuft es einem daher über den Rücken, wenn Jessica Sanft mit gleichsam hartem wie leerem Blick durch die Szenerie schreitet oder in die Ferne schaut, mit einem Ausdruck, der einen erstarren lässt; dagegen wie die pragmatische Taktgeberin dieser zersplittert widersprüchlichen Persönlichkeit wirkt Zofia Lokuciejewska, deren Durchsetzungsfähigkeit sich im beharrlichen Abwarten zeigt, in der Ruhe, mit der sie die mörderische Dynamik ihres vergifteten Angebotes beobachtet.
Dem bezaubernd-unerbittlichen Trio steht Edin Pejmanovic in nichts nach: wie er zunächst mit einiger lausbübischer Energie etwas aufgesetzt charmant an alte Zeiten anzuknüpfen versucht, wie er zunehmend erschöpft um Gehör kämpft, schließlich um Selbstachtung, und wie er nicht nur sein moralisches Versagen anerkennt, sondern auch das neue Unrecht als Vergeltung des früheren - das ist fast körperlich zu spüren. Zum emotionalen Herzzentrum der Inszenierung wie des Stücks wird daher der melancholische Rückblick von Klara und Alfred im Wald ihrer Jugend: fast unhörbar leise erinnern Talea und Edin an vergangene Tage - er sagt, es werde ein sinnloses Leben beendet, sie hingegen wolle den Traum von einst zurückholen, indem sie ihn vernichte. Das gelingt ganz schlicht, ja zärtlich und daher bedrückend intensiv.
Weniger die grotesken Elemente im Verlauf des moralischen Verfalls einer Ortsgemeinschaft angesichts des Ausblicks auf viel Geld als vielmehr diesen selbst rückt das Ensemble in den Mittelpunkt. Unter der behutsamen Anleitung der Lehrpersonen Anne Burkhardt und Tina Somann arbeitet das Team die Doppelmoral der Figuren und deren Verrohung überzeugend heraus. Was
gerecht sei, sei eben nicht so klar, liege im Auge des Betrachters, hänge an der Perspektive.
Wenn alle meinen, im Recht zu sein, drängt sich der irritierende Verdacht auf, vielleicht liege keiner so ganz richtig.
Zu den größten Stärken der Inszenierung, die - wie gewohnt - bestens ausgeleuchtet ist dank der zuverlässigen Arbeit der Licht- und Ton-AG, gehören die Choreografien zu Beginn und am Ende. Nicht zuletzt daran müssen sich folgende Produktionen messen lassen. Und diese Latte liegt beachtlich hoch.
Autor
16.06.2025